GERHARD RICHTER UND DIE KUNST DER ZEICHNUNG
Wir werfen einen Blick zurück ins Frühjahr 2020. Das Atelier des Malers ist aufgelassen, der Werklauf der Malereien abgeschlossen. In der weltlichen Abgeschiedenheit des Ateliers entstehen unter Gerhard Richters Hand nunmehr Zeichnungen, die seiner selbst auferlegten Maxime Genüge tun müssen: „Das Eigentliche, das Schwierigste ist aber, etwas zu machen, das gut ist.“ Für die Zeichnung gilt das im Besonderen, da jedes Pentimento, jede Unsicherheit und Inkonsequenz auf dem Papier Spuren hinterlassen würde.
Es ist an der Zeit, in diesem Freiraum jenseits überbordender Diskurse zu seinem Gesamtwerk über Zeichenkunst nachzudenken – Gerhard Richters Zeichenkunst. Konzentriert wird sich hier auf die Auswahl seiner jüngsten graphischen Arbeiten für das Münchner Ausstellungsprojekt. Die Fülle dieses virtuosen Werkblocks ist mit Blick auf sein zeichnerisches Gesamtwerk überraschend. Anstelle eines Intermezzos setzt sie einen fulminanten Schlussakkord.
Schon bei unserem ersten Gespräch in seinem Atelier im Juli 2020 werden die Pläne für das Ausstellungsprojekt 54 Zeichnungen ∙ 3 Graue Spiegel ∙ 1 Kugel konkret. Von Anfang an steht außer Zweifel, dass Gerhard Richter einzig aktuelle Zeichnungen, die wenige Wochen zuvor entstanden sind, zeigen möchte. Über die Raumpläne und Ausstellungsansichten macht er sich schnell ein Bild von der Ausgangssituation. Mehr oder weniger wortlos ist klar, dass er sich im sogenannten Vitrinengang keine Werke auf Papier vorstellen möchte, und bittet sich Bedenkzeit aus. Später stellt er mit nur einem Satz fest: „Ich sehe hier eine Möglichkeit für Skulpturen.“ Derweil ziehen mich beim Gang durch das Atelier zwei seiner großformatigen grauen Spiegel in ihren Bann, Werke, die mich schon als Student auf der documenta IX begeisterten. Spontan kommt in mir der Wunsch auf, sie den Zeichnungen beizugeben. Gegenüber dem Künstler lasse ich meine Begeisterung für mich sprechen, es gibt ja nichts zu verlieren und die Spiegel wären das Nonplusultra.
DAS AUSSTELLUNGSKONZEPT
Bei meinem zweiten Besuch wenige Wochen später werden die ersten Ideen finalisiert: Drei Suiten von Zeichnungen sind gesetzt. Zwei großformatige Spiegel und ein wesentlich kleinerer Spiegel im Querformat finden beiderseitige Zustimmung, nur eine Lösung für die Vitrinen steht noch aus. Auf Gerhard Richters unverhoffte Frage, ob ich mir einzig sein Objekt Kugel in einer der zwölf Vitrinen vorstellen könne, antworte ich mit einem klaren Ja.
Schlussendlich wird es eine serielle Hängung in asketischer Strenge sein, sublimiert von drei Spiegeln an drei Stirnseiten der beiden Ausstellungsräume. Eingangs ruht einzig eine Kugel in einer der zwölf ansonsten unbestückten Schauvitrinen für Graphik. Auf ihrer polierten Oberfläche spiegelt sich der monotone Umraum. Die Kugel ist provozierendes Readymade und rätselhafter Vorbote zugleich. Doch der nüchterne Anschein trügt. Mit dem Projekt 54 Zeichnungen ∙ 3 Graue Spiegel ∙ 1 Kugel ist Gerhard Richter eine radikale Präsentation seiner aktuellen Zeichnungen im Museumsraum gelungen.
SPIEGEL IM SPIEGEL (ARVO PÄRT)
Richter bringt uns in seiner Münchner Ausstellung in Konfrontation mit den Spiegeln in eine kathartische Situation. Gleich einer Leerstelle werfen uns die Spiegel auf uns selbst zurück. 1981 hatte Richter folgende Notiz festgehalten: „Polemisch: Degradierung aller anderen Bilder; Provozierung des Betrachters, der sich selbst anstelle eines Bildes sieht.“ Ob wir die Zeichnungen sehen oder nicht sehen ist nicht mehr die Frage, sondern vielmehr, ob wir in unserem Spiegelbild versinken oder wieder von ihm loskommen. Wem es gelingt, der hat alle Zeit der Welt, sich auf die ausgestellten Zeichnungen einzulassen.
Mit diesem Projekt erörtert die Staatliche Graphische Sammlung München zum wiederholten Mal die Frage nach dem Stellenwert der Zeichenkunst im 21. Jahrhundert als Impulsgeberin innerhalb der bildenden Künste und befragt ihre Rolle als existenzielle Ausdrucksform menschlichen Intellekts und seiner Schöpfungskraft.
Michael Hering
Künstlerkatalog
Kugel
CREDITS FILME
Idee & Konzept / concept: Bernd Degner / Kamera / camera: Thomas Zothner / Ton & Schnitt / sound & cut: Jan Tauber / Graphische Bearbeitung / Graphics: B.O.A. Videofilmkunst, Gábor Bartal
Copyright: Staatliche Graphische Sammlung München 2021
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Sonntag regulär 1€
Tagesticket (Alte Pinakothek, Pinakothek der Moderne, Museum Brandhorst, Sammlung Schack) 10€