Die Ausstellung
Selten ist es uns vergönnt, einem Graphiker gewissermaßen bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und der Entstehung eines Meisterwerks beizuwohnen, das wir für gewöhnlich erst zu Gesicht bekommen, wenn es der Künstler für gültig befunden hat und aus dem Atelier entlässt. Umso mehr ist es ein Glücksfall, dass ab 2013 mit der großzügigen Unterstützung einer kleinen Gruppe von Förderern auf Initiative S. K. H. Herzog Franz von Bayern die umfangreiche Suite der Probedrucke zu Georg Baselitz’ Künstlerbuch Malelade von 1990 für die Staatliche Graphische Sammlung München erworben werden konnte. Die Ausstellung Georg Baselitz – Malelade bietet nun erstmals die Gelegenheit, an den Originalen die Werkgenese zu diesem singulären Buchprojekt, das 41 großformatige Kaltnadelradierungen umfasst, hautnah Schritt für Schritt und im Gesamten zu studieren.
Die 148 Probedrucke ergänzen nicht nur den reichen Münchner Bestand an Werken von Georg Baselitz. Noch vor dem Auflagendruck entstanden, eröffnen sie vor allem auch Einblicke in die Werkgenese und den Schaffensprozess mit seinen flüchtigen Momenten. Dieser kann, von Blatt zu Blatt verschieden, von der ersten Konkretion über Verwerfungen und Korrekturen bis hin zu endgültigen Findungen reichen. Einmalig ist, in der vergleichenden Zusammenschau den künstlerischen Rang dieser Suite schon auf den ersten Blick erleben zu können.
Zweifellos ist Malelade ein Hauptwerk des Peintre-Graveur Baselitz und eine Inkunabel unter den Künstlerbüchern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Georg Baselitz’ „Gemütstagebuch“ holt zeithistorisch weiter aus, blickt vor und zurück, wenn der Künstler die Wesenheit deutscher Geschichte und Geschicke als Klangbilder thematisiert. Schon das Wortspiel des Titels Malelade changiert zwischen den Extremen einer infantilen „Idiotensprache“, wie Baselitz es formuliert, und dem weitsichtigen intellektuellen Fazit eines Peintre maudit – eines im Sinne des französischen Existentialismus in die Welt geworfenen Künstlers. Fortlaufende rudimentäre Wortfetzen wie Romantiker / kaputt oder viel Nacht sein kommen sowie sein wider Schutz / und ohne Kleid / dummer Junge Esel entwerfen einen Kosmos sinnstiftender und zugleich paradoxer Bezüge. Niemand anderes als der Künstler selbst verbirgt sich hinter diesem inneren Zwiegespräch. Die ungelenke brüchige Handschrift der scharf gestochenen Schriftzüge forciert den Widerspruch semantischer und syntaktischer Ungereimtheiten der Wortbilder einmal mehr und geht in den Motiven von Baselitz’ persönlicher Ikonographie auf. Baselitz entwirft ein facettenreiches Bild eines zerrissenen deutschen Sentiments, das nicht zur Ruhe kommt, verursacht durch einen Kulturbruch in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, „der so vehement war und ist, dass er eigentlich gar nicht mehr zu reparieren ist“.
Kein zweites Mal hat Georg Baselitz so sprach- und bildgewaltig den Ist-Zustand der Conditio humana der Moderne in der Druckgraphik auf den Punkt gebracht.
Anlässlich seines 85. Geburtstags und Georg Baselitz zu Ehren präsentiert die Staatliche Graphische Sammlung München erstmals die komplette Folge der Probedrucke in einer Ausstellung.
Zugleich ist dieses Projekt einmal mehr Reverenz an unseren langjährigen Förderer S. K. H. Herzog Franz von Bayern. Er zählt zu den frühen Sammlern der Werke von Georg Baselitz und ist dem Künstler bis heute eng verbunden. Einzig seinen großzügigen Schenkungen ist es zu verdanken, dass der Graphiker Georg Baselitz so umfangreich und in so erlesener Qualität in der Staatlichen Graphischen Sammlung München vertreten ist. Seinem Mäzenatentum und seiner bis heute anhaltenden Begeisterung für das stets sich wandelnde Werk Georg Baselitzʼ verdanken wir, dass der Werkblock graphischer Arbeiten für die Sammlung beständig erweitert wird.
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